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Wie der Suizid meines Bruders alles änderte - Mama hat AuDHS
Gefühle,  Psychische Krise

Wie der Suizid meines Bruders alles änderte

TRIGGER-Warnung: Ich schreibe über Suizid, Trauer und Tod.

Das ist der schwierigste, traurigste und befreiendste Blogbeitrag den ich je geschrieben habe. Für mich ist das Schreiben über meine Gefühle eine Therapie. Aber dieser Blogbeitrag ist nicht nur für mich, er ist auch für Dich mein kleiner Bruder. Ich vermisse Dich so unglaublich!

Gehen wir zurück zu dem Tag an dem ich die Nachricht bekam: der 16. Dezember 2020.
2020 war sowieso schon ein seltsames Jahr. Erst Corona (ja, ich weiß, das böse C-Wort!), dann starb meine geliebte Oma an ihrer dritten Krebserkrankung. Sie war so eine starke Frau! Mich wurmt es bis heute, dass ich mich über FaceTime verabschieden musste und meinen Bruder auf der Beerdigung nicht umarmt habe. Da hatte ich ihn das letzte Mal lebend gesehen. Am 22. September kam schließlich meine zweite Tochter auf die Welt in dieser wunderbar überwältigenden Hausgeburt. Das Wochenbett und die Zeit darüber hinaus waren sehr anstrengend und der Alltag teilweise kaum zu bewältigen. Aber das ist eine andere Geschichte – für diese ist eigentlich nur wichtig zu wissen, dass ich sowieso schon überlastet und überfordert war.

Die schreckliche Nachricht

Am 16. Dezember also sollte sich alles ändern. Ich hatte sowieso schon ein schlechtes Gewissen, weil meine (andere) Oma ihren 80. Geburtstag feierte und ich noch nicht angerufen hatte. Es kündigte sich mit einer WhatsApp-Nachricht von meinem Vater an: “Ist Dennis gerade bei dir?”
Irgendwie seltsam, kein Hallo und nix – hatte wer von uns beiden was angestellt und ich hatte es nicht mitbekommen? In mir machte sich ein seltsam flaues Gefühl in der Magengegend breit. Ich antwortete: “Ja der ist im Home-Office. Wieso?” Mein Vater: “Können wir telefonieren?” Ich: “Klar”
Ich war mir ziemlich sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. Dann klingelte mein Handy und Papa hörte sich irgendwie leise und bedrückt an. Er bat mich darum mich hinzusetzen, also nahm ich am Wohnzimmertisch Platz und bestätigte dies. Dann erzählte er es mir: “Es ist etwas schreckliches passiert… Der Max hat sich umgebracht.” Stille. Ich starrte ins halbdunkle Wohnzimmer und versuchte in meinem Gehirn irgendwie einzuordnen was ich gerade gehört hatte. Meine Gedanken sprangen zu meinen beiden Brüdern Max und Felix, irgendwie brachte ich das Gesagte nicht mit meinem Bruder zusammen. Ich brachte nur ein ersticktes “Was?” heraus. Und ich glaube dann sickerte es langsam durch und ich fragte mehrmals nach, sagte immer wieder “Nicht mein Max!”. “Was hat er denn gemacht?” Er hatte sich ein Hotelzimmer genommen, sich seinen Anzug angezogen und mit Helium erstickt. Mein Vater weinte, ich weinte… es war ein einziger Schock. Ich lief mit dem Handy irgendwie im Wohnzimmer umher und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das konnte und wollte ich nicht glauben! Nachdem wir noch ein wenig geredet hatten kamen wir drauf: Mama weiß es noch nicht! Scheiße, sie feierte gerade bei meiner Oma den Geburtstag und hatte keine Ahnung. Felix hatte es durch die Polizei und einen Seelsorger erfahren, mein Vater genauso. Meine Mutter hatten sie noch nicht benachrichtigen können, da sie ja nicht zu Hause war. Von mir hatte die Polizei keine Adresse, daher übernahm mein Vater den Anruf. Dennis kam im Laufe des Gesprächs aus dem Büro runter und legte die Hände auf meine Schultern, später redete er noch mit Papa am Handy. Mein einziger Gedanke im Kopf war – was ist mit Mama? Was – wie machen wir das bloß? Außerdem erzählte Papa, dass es einen Abschiedsbrief gebe, aber da stehe nicht drin warum mein Bruder sich getötet hatte. Er sendete mir ein Foto davon. Ihn zu lesen war schrecklich, aber auch ich fand keinen Anhaltspunkt: Warum?

Zusammenhalt

Es war Abend und meine Mama wohnt 1 1/2 Stunden entfernt. Ich wollte nicht, dass sie alleine ist, wenn die Polizei und der Seelsorger sie besucht hatten. So beschlossen wir, dass Dennis mit Emily losfahren und sie zu uns holen würde. Ich kümmerte mich derweil um Feenja, lag einfach nur gelähmt und weinend im Bett neben ihr. Mit einem guten Freund konnte ich zum Glück direkt darüber schreiben, es half mir sehr die Zeit zu überbrücken. Dann beschloss ich meine Mama selbst anzurufen, bevor Dennis oder die Polizei kommen würden. Aber nicht solange sie noch bei meiner Oma feierte. Das Telefonat war schrecklich für uns beide, aber ich bin trotzdem froh, dass ich das übernommen hatte. Ich blieb so lange mit ihr am Hörer bis Dennis ankam – tatsächlich gleichzeitig mit der Polizei. Eigentlich wollte sie erst nicht mit zu uns, aber im Nachhinein war sie dann doch froh nicht alleine zu sein. Die nächsten Tage überlebten wir eigentlich alle nur irgendwie. Dennis, Mama und Papa nahmen sich Urlaub, wir telefonierten viel, schwiegen gemeinsam, weinten. Keiner von uns konnte oder wollte es glauben. Schon ab dem ersten Tag mussten meine Eltern vieles regeln. Der Körper meines Bruders wurde erst mal von der Staatsanwaltschaft übernommen, um zu untersuchen ob keine Straftat vorlag. Es ist so viel zu tun wenn ein Mensch stirbt… Überführung, willst du den Toten noch einmal sehen?, Sarg oder Urne?, Totenschein, Beerdigung – und die Trauer? Wo bleibe ich mit meinem Schock und meiner Trauer? Kann ich so schnell überhaupt schon trauern?
Ich versuchte viel zu reden, ich schlief schlecht, abends hatte ich teilweise einen Verwesungsgeruch in der Nase und anfangs weinte ich jeden Tag. Mein Bruder sollte nicht mehr da sein? Wieso? Das ergibt doch keinen Sinn? Warum? Wie hätten wir das verhindern können?
Plötzlich hielten wir alle ganz eng zusammen. Meine Eltern redeten wieder miteinander, meine Mutter konnte sogar mit meiner Bonusmama sprechen. Dennis war der Fels in der Brandung und das ist er immer noch. Ich bin so dankbar für die vielen liebevollen Menschen in meinem Leben, die sofort Unterstützung und Hilfe anboten und einfach da waren. Einige wenige haben sich zurückgezogen, was ich vollkommen verstehen kann. Leider gab es auch eine nahestehende Person, die damit gar nichts anfangen konnte; uns mit ihren Themen zusätzlich sehr belastete und kein Verständnis für die Situation aufbringen konnte. Das ist aber eine persönliche Geschichte, über die ich in diesem Beitrag nicht schreiben möchte.

Der Friedwald

Nicht mal einen Monat später, also fast zu schnell am 7. Januar, beerdigten wir meinen Bruder im engsten Familienkreis in einem wunderschönen Friedwald. Sein Baum ist ein wenig versteckt und sehr gerade; meine Eltern haben genau den richtigen Platz ausgesucht. Mein zweiter jüngerer Bruder hatte ein sehr schönes Bild gestaltet, welches wir am Andachtsplatz aufstellten. Die beiden standen sich sehr nahe, schon von kleinauf. Während der gesamten Beerdigung stand ich völlig neben mir und auch danach wollte ich einfach nicht wahr haben, dass das die Asche meines Bruders in der Urne ist. Trotzdem half uns dieser kleine Abschied in der Trauer ein Stückchen weiterzugehen. Wir durften eine Kleinigkeit mit ins Grab legen. Ich schrieb ihm einen Brief und faltete daraus eine Origami-Lilie, die er als Kind so oft bastelte und uns schenkte. Emily und mein kleinster Halbbruder spielten um uns herum im Wald und lockerten so die traurige Stimmung etwas auf. Das hat uns glaube ich allen gut getan.
Meine Mama brachte die Traumsteine meines Bruders mit, die früher immer unter seinem Kopfkissen lagen. Vor dem schlafen gehen sagte er immer seinen Spruch: “Ich wünsch’ Dir ganz viel Glück, damit Du ganz viele schöne Träume hast!” Das wünschte ich ihm nun ein letztes Mal.

Ich hoffe da wo du jetzt bist hast Du schöne Träume und den Frieden, den Du Dir gewünscht hast kleiner Bruder!

Die Veränderung

Mit dem Ausräumen seines WG-Zimmer und dem Beginn des Frühlings kann ich nun irgendwie akzeptieren, dass er tot ist. Annehmen mag ich es noch nicht so recht. Der Suizid hat mich verändert. Die genauen Auswirkungen kenne ich noch nicht alle, aber ich denke nun anders über den Tod. Zum einen habe ich gesehen was ein unangekündigter Suizid mit den Hinterbliebenen macht – ich werde nie wieder darüber nachdenken mich selbst töten zu wollen! An dem Punkt stand ich schon einige Male, das könnt ihr sogar hier nachlesen. Zum anderen habe ich mich viel mit dem Thema beschäftigt und habe keine Angst mehr vor dem Tod. Im Gegenteil, ich kann das Leben viel mehr annehmen und leben, wenn ich weiß es ist irgendwann vorbei. Und das ist beruhigend und gut so. Ich will ja gar nicht ewig leben.
Was mich auch nicht mehr arg belastet ist Corona oder dass Feenja öfter anstrengend ist. All diese Probleme kommen mir jetzt oft klein und nichtig vor. Es sind trotzdem anstrengende Hindernisse im Alltag, aber ganz ehrlich – ich würde ein dauerhaftes Leben mit Pandemie und Maßnahmen und Schlafmangel sofort eintauschen, wenn dafür mein Bruder wieder leben würde. Ich bin teilweise schon wieder der fröhliche Mensch, der ich vor dem Suizid war, aber die Trauer wird für immer mein ständiger Begleiter sein und mich mal mehr, mal weniger einnehmen.
Es hat mir gezeigt auf wen aus meiner Familie und von meinen Freunden ich mich verlassen kann und wo ich Unterstützung bekomme. Mit vielen fühle ich mich jetzt enger verbunden als vorher.

Am Ende dieses Beitrages fehlen mir die Worte, so wie sie mir zu dem Suizid meines Bruders irgendwie fehlen. Aber ich möchte dieses wichtige Thema nicht unausgesprochen lassen. Solltest du also merken, dass es dir schlecht geht oder jemandem in deiner Familie/deinem Bekanntenkreis, dann wende dich an die Telefonseelsorge, die immer erreichbar ist:

Per Telefon 0800 / 111 0 111 , 0800 / 111 0 222 oder 116 123
per Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de

Die TelefonSeelsorge® ist für jeden da, für alte und junge Menschen, Berufstätige, Hausfrauen,  Auszubildende oder Rentner, für Menschen jeder Glaubensgemeinschaft und auch für Menschen ohne Kirchenzugehörigkeit. Rund eine Million Gespräche werden jedes Jahr geführt, kostenfrei und rund um die Uhr. Denn Sorgen wiegen schwer und sie richten sich nicht nach Tages- oder Öffnungszeiten. Dafür haben wir auch mitten in der Nacht ein offenes Ohr. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind sich ihrer verantwortungsvollen Aufgabe bewusst und nehmen Ihren Anruf ernst – egal, ob um acht Uhr morgens oder um Mitternacht.

Fühl Dich lieb gedrückt und bleib gesund
Deine Julia Amelie

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